Kategorie: 2020er

Episode 228: Wim Wenders‘ Perfect Days – Poesie des Alltags

Hirayami ist so etwas wie ein analoges Fossil in einer digitalisierten Welt. Jeden Morgen noch vor Sonnenaufgang fährt er mit seinem Bully los, um die schicken öffentlichen Klos des Tokio Toilet Projects zu reinigen. Er hört klassische Rock & Roll Musik auf seinem Kassettenplayer, knipst Fotos von Bäumen mit einer einfachen Analogkamera und liest Patricia Highsmith und Aya Kōda. Er ist bei seiner Arbeit pflichtbewusst, meistens schweigsam und verkehrt immer in den gleichen Restaurants und Bars. Aufgebrochen wird sein routinierter Alltag von verschiedenen Begegnungen:

Da ist zum Beispiel die Hostesse Aya, die Hirayamis lauten Kollegen Takashi datet und bei einer Fahrt mit seinem Bully in die Musik von Patti Smith verliebt. Da ist ein anonymer Toilettenbenutzer, mit dem Hirayami Fern-Tic-Tac-Toe spielt. Da ist der Obdachlose, der gerne Bäume in Park umarmt. Da ist die Bar-Besitzerin, die auf wundervolle Weise “The House of the Rising Sun” in einer japanischen Variante singt. Und da ist Niko, Hirayamis junge – lange nicht gesehene – Nichte, die plötzlich unerwartet vor seiner Tür steht.

Hirayamis Alltag ist einfach, ohne große Dramen, ohne große Abwechslung. Und doch erlebt er in den Wochen, von denen Wim Wenders’ Film aus dem Jahr 2023 erzählt, die titelgebenden Perfect Days. Johannes, als ausgesprochener Fan von Heldengeschichten, Konflikten und Charakterentwicklungen… war dir das zu wenig?

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Episode 224: Henry Sugar and more – Wes Anderson verfilmt Roald Dahl für Netflix

Mir war nur zu bewusst gewesen, welches Risiko ich einging, als ich Plor, meinem Naseweisen Kompagnon, einen weiteren Wes Anderson Film gab. Nicht nur einen, sondern gleich vier. Sorgenvoll setzte ich mich an meinen Schreibtisch und tippte meine einleitenden Worte. Diese sollen im folgenden vollständig wiedergegeben werden:

“Wes Anderson war seit seiner Kindheit großer Fan von Roald Dahls Geschichten und hat mit Fantastic Mr. Fox schon einmal eines seiner Werke verfilmt. 2022 drehte er für Netflix eine Reihe von vier Kurzfilmen, die aus verschiedenen Anthologien Roald Dahls entnommen sind. Aber er wollte er die Textvorlage so unberührt wie möglich lassen und ließ die Schauspieler konsequenterweise sowohl Dialoge, als auch Beschreibungen mitsprechen.” Ich schwitzte stark und meine Finger wurden klamm, wusste ich doch nicht, wie Plor auf meinen waghalsigen Filmvorschlag reagieren würde.

“Die erste Geschichte und damit die Namensgebende, handelt von Henry Sugar”, tippte ich “der in einem Arztbericht von einem Inder liest, der mittels Yogi-Kräften zu sehen vermochte, ohne die Augen zu nutzen. Eine durch jahrelanges hartes Training erworbene Fähigkeit, die Henry Sugar überzeugte, in kürzester Zeit steinreich werden zu können. Drei Jahre und drei Monate meditiert er und bringt seine Konzentration auf nur einen Punkt. Und tatsächlich. Er errät zuverlässig den Wert einer zufälligen Spielkarte in unter fünf Sekunden. Ein phänomenales Ergebnis. Als er seine ersten Gewinne im Casino einstreicht, passiert etwas Ungeheuerliches: Henry Sugar hat kein Interesse mehr am enormen Reichtum. Er beschließt den Rest seines Lebens damit zuzubringen Waisen- und Krankenhäuser zu bauen. Bis er schließlich im Alter von 63 Jahren an einer Lungenembolie…
Ich spitzte meinen Bleistift der zum Schreiben zu stumpf geworden war. Dann tippe ich weiter:

“…an einer Lungenembolie stirbt, die er natürlich hat kommen sehen, da er durch seinen Körper hindurch sehen konnte, wie sich das Blutgerinnsel gen Herzen vorarbeitet. Er starb glücklich und zufrieden.”

Ich sank zufrieden in meinen Stuhl und beschloss, die anderen drei Geschichten erst zusammenzufassen, sobald das Gespräch darauf kommen würde. Diese eine war vorerst genug.

Als ich einige Zeit später von meiner Tastatur aufschaute saß da Plor und schaute mich erwartungsvoll an. “Nun Plor?”, fragte ich, sichtlich nervös “Konntest du etwas neues in diesen Filmen entdecken, oder war es wieder nur ‘same old Wes Anderson’?”

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Episode 223: Hundreds of Beavers – Expressionistischer Looney Tunes Slapstick Horror im Jahr 2025

Normalerweise bringen wir an dieser Stelle eine mal mehr mal weniger tiefe und breite Inhaltszusammenfassung, das können wir meiner Meinung nach aber an dieser Stelle abkürzen. Zum einen, weil die Story von “Hundreds of Beavers” weder besonders breit noch besonders tief ist, und zum zweiten, weil sie nicht der entscheidende Punkt bei der Frage ist, ob man den Film sehen möchte.

Also in aller Kürze: Nachdem das Apfelweinimperium von Jean in einer riesigen Explosion zu Grunde gegangen ist, findet er sich im erbarmungslosen Winter des amerikanischen Nordens wieder: Zuerst muss er ums Überleben kämpfen, wird schließlich Lehrling bei einem erfahrenen Trapper. Und beschließt nach dessen Tod, die titelgebenden Hunderte von Bibern zu fangen, um die Frau seiner Träume heiraten zu können, die Tochter eines grimmigen Pelzhändlers ist.

Was bei diesem Film im Zentrum steht, ist nicht seine Geschichte sondern seine Inszenierung: Ein schwarzweißer Stummfilm, vollgepfropft mit Cartoonsounds und albernen Gags. Die Tiere – egal ob Biber, Hase, Hund, Wolf oder Pferd – gespielt von Menschen in billigen Tierkostümen. Von der Action orientiert an klassischen Slapstickkomödien und Looney Tunes Cartoons, von der Ästhetik inspiriert von expressionistischen Stummfilmen, von der Struktur angelehnt an Videospiel-Grinds. Ganz unabhängig von der Qualität der Ausführung und dem Remix-Charakter vielleicht der originellste Film der letzten zehn Jahre… Ich habe so etwas in der Form jedenfalls noch nicht gesehen… du, Johannes?

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Episode 216: The Wild Boys – Sex, Gewalt und Genderfluidität

Irgendwo im nirgendwo irgendwann zu Beginn des 20. Jahrhunderts leben fünf reiche, verzogene Jungs, die versuchen, ihre Langeweile mit Exzess zu betäuben. Aus Begehren wird Raserei und die Bande begeht ein schreckliches Verbrechen. Sie werden verurteilt und sollen zur Resozialisierung mit einem bärtigen, ruppigen Kapitän auf See. Die Überfahrt soll sie zu neuen Menschen machen, so zumindest das Versprechen.

Über die rauhe See bringt sie der Kapitän zu einer Insel der Lüste, bevölkert von phallischen und vulvischen Pflanzen… und einem Dr. Moreau in einem Frauenkörper, der aber im Gegensatz zum viktorianischen Vorbild nicht an der animalischen Seite des Menschen interessiert ist, sondern seiner feminen. Und so erleben die Jungs einen Sex- und Genderswap, der sie in der Tat zu neuen Menschen macht… oder auch nicht.

The Wild Boys von Bertrand Mandico aus dem Jahr 2017 ist so etwas wie Clockwork Orange auf Aphrodisiaka. Eine hitziger, sexuell aufgeladener Fiebertraum, erzählt in schwarzweiß mit grellen Farbintermezzi. Gewalttätig, stilisiert, queer und provokant, so als hätten Alejandro Jodorowski, Judith Butler und Charles Baudelaire einen hypersexuellen Bastard gezeugt. Die Jungs werden ausnahmslos von Frauen gespielt, erleben irgendwann auch in der Handlung körperliche Transformationen und erleben das ganze, ähnlich wie das Publikum sowohl als Traum als auch Alptraum. Sehr surreal, sehr romantisch, sehr brutal und zugleich sehr eskapistisch.

Johannes, deine Skepsis gegenüber experimentellen, surreal opulenten Filmen hast du in der Vergangenheit des Öfteren bewiesen. Und ich kann mir vorstellen, dass die Vermengung von Sexualität und Gewalt in diesem Film für dich problematisch ist. Also komm doch einfach mal mit deinen ersten Eindrücken.

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Episode 209: Hamilton – US-Geschichte als multikulturelles Musical

Wir starten das neue Jahr mit einem echten Banger: Hamilton ist möglicherweise das bekannteste und am meisten diskutierte Musical, das den Broadway in den letzten Jahren heimgesucht hat. Hamilton, uraufgeführt 2015, für Disney+ von der Bühne abgefilmt und online veröffentlicht 2020, versucht amerikanische Gründungsgeschichte und amerikanischen Gründungsmythos als große Revue zu inszenieren. Ausgerechnet Alexander Hamilton, einer der unbekannteren Gründungsväter, soll uns dabei durch den Kampf und Unabhängigkeit und die Entstehung einer Nation führen. Und das zeitgemäß aufgearbeitet als buntes Musical mit PoC-Darsteller*Innen, parlamentarischen Battle Raps und King George als Britpop-Schnösel. Kann das gut gehen?

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Episode 196: Skinamarink – Der unheimlichste Horrorfilm der letzten Jahre?

Es ist Nacht in einem typischen amerikanischen Mittelschichtshaus im Jahr 1995. “Are you hiding” ertönt eine Kinderstimme durch die Dunkelheit. Sturzgeräusche. Dann die Stimme eines Mannes am Telefon. Irgendjemand – vermutlich ein Kind – ist die Treppen hinuntergestürzt. Ließ sich aber problemlos behandeln, erfahren wir durch die Stimme des Mannes am Telefon. Stille Dunkelheit….

Die vielleicht sechsjährige Kayleigh und ihr jüngerer Bruder Kevin wurden anscheinend allein gelassen. Zumindest sind ihre Eltern nicht zu Hause. Sie machen es sich unten gemütlich, schauen Cartoons. Spielen Lego. Aber irgendetwas stimmt nicht mit ihrem zu Hause: Türen und Fenster lösen sich auf, Spielzeug hängt plötzlich an der Wand oder an der Decke. Und dann ist da noch diese Stimme, die sie durch die Dunkelheit ruft.

Skinamarink war ein kleiner Überraschungshit im Jahr 2023. Mit gerade Mal 15.000 Dollar Budget hat er die Aufmerksamkeit zahlloser Influencer auf sich gezogen und wird seitdem als einer der unheimlichsten Filme unserer Zeit gehandelt. Ein irrer Horror-Hype, allerdings nicht ohne Widerspruch.

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Episode 186: Barbenheimer II – Barbie

Stereotypical Barbie, gespielt von Margot Robbie, lebt mit ihren Freundinnen in Barbieland, einem wunderschönen Plastikort, fernab jeglicher weltlicher Probleme. Zusammen mit den anderen Barbies geniesst sie dort ein sorgenfreies Leben. Und dann gibt es natürlich noch die diversen Kens, allen voran Beach Ken, gespielt von Ryan Gosling, die in diesem Matriarchat vor allem dafür verantwortlich sind, gut auszusehen und Barbie zur Seite zu stehen.

Aber etwas ist komisch in letzter Zeit: Barbies Milch wird sauer, ihr Toast ist verbrannt, sie ist geplagt von Gedanken über den Tod, und am schlimmsten, ihre Füße neigen sich zum Boden. Ganz klar, daran muss ihre Besitzerin in der realen Welt schuld sein. Und so macht sie sich mit dem ungebetenen Fahrgast Ken zusammen auf den Weg in die echte Welt, naja fast, es geht nach Kalifornien, um ihr Leben wieder in den Griff zu kriegen. Dort wird sie allerdings nicht nur von den oberen Chefs ihres Herstellers Martell gejagt, Ken lernt auch so etwas wie das Patriarchat kennen und bringt dessen Ideen erfolgreich nach Barbieland: Und plötzlich muss sie gleich mehrere Krisen bewältigen: Ihre eigenen Selbstzweifel überwinden, Barbieland aus der Hand des Masochismus befreien und den Konflikt mit ihrer Besitzerin klären.

Barbie aus dem Jahr 2023, Marketingvehikel für Martels berühmte, viel kritisierte Puppe, ein Musical mit bemüht feministischem Subtext, ausgerechnet von einer der besten Indie-Regisseurinnen Amerikas, und dann doch auch noch eine Verbeugung vor dem Spielzeug, das viele Kinder, vor allem Mädchen, glücklich gemacht hat. Eine merkwürdige Mischung… aber bleiben wir kurz bei dem letzten Punkt stehen: Der Nostalgie, dem Spielzeug und einer gar nicht so unwichtigen Frage: Johannes hast du in deiner Kindheit mit Barbie gespielt, hattest du Kontakt zu der Puppe, und wie viel Nostalgie verbindest du mit ihr?

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Episode 185: Barbenheimer I – Oppenheimer

Julius Robert Oppenheimer, der Vater der Atombombe. Ein Vater, der sich reuevoll zeigt, ob seiner Kreation. Christopher Nolan sieht eine in sich gespaltene Figur (Pun intended!). 

Nolan setzt sich hin und versucht die Episoden in Oppenheimers Leben zusammenzutragen, die einem nachvollziehbaren Narrativ folgen: Oppenheimers Studium als junger Mensch. Sein Versuch, seinen Professor mit einem vergifteten Apfel zu strafen. Seine Obsession mit Nils Bohr und mit der Quantenmechanik. Wie er vom Militär angeworben wird, das Manhattanprojekt aufzubauen und zu leiten. Wie er andere Physiker überzeugt, dass es wichtiger ist, vor Hitler die Atombombe zu bauen. Und schließlich, wie sie die Atombombe auf einem Testgebiet zünden.

Aber, oh wai!. Nolan will auf 180 Minuten kommen, damit der Film länger ist, als sein bisher längster Film. Dann lass uns noch hinten ran hängen, wie die Bombe wirklich eingesetzt wird und wie er von Strauss, seinem Arbeitgeber und Weggefährten hintergangen wird und seine Sicherheitsfreigabe in einem bösartigen Tribunal verliert.

Oh Wait. Es ist ja Chris Nolan, er kann das Ding nicht einfach geradeaus erzählen. Dann werfen wir mal alle Teile der Geschichte in den Mixer, mal sehen was passiert. Oh, ein paar Teile haben die Farbe verloren…? Was soll’s. Die Reihenfolge der Ereignisse ist auch schwer wiederherstellbar, naja. Ich sag mal so: KUNST.

180 Minuten erzählt Nolan in bombastischen Bildern, wie es zur Atombombe kam und wie Oppenheimer diese Zeit erlebt hat. Oder erlebt haben könnte. Und vor allem: er lässt uns diese schreckliche Waffe erleben und wir dürfen uns judgmental fragen: Wie moralisch fragwürdig war diese Projekt und wäre es wirklich nötig gewesen, die Bomben am Ende des Weltkrieges, NACH Hitlers Tod, noch schnell auf Japan zu werfen?

Diese Frage gebe ich gleich mal an dich weiter. Plor.

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Episode 172: Poor Things von Yorgos Lanthimos… und der Kampf um die Deutungshoheit

Heute wird gestritten! Und zwar so richtig. Wir haben uns einen der großen Oscarfilme des Jahres vorgeknöpft: Poor Things von Yorgos Lanthimos. Und, so viel können wir schon mal sagen: Wir haben sehr unterschiedliche und sehr starke Meinungen zu diesem Steampunkmärchen, das Motive von Frankenstein mit einer Menge Sex und einem gewissen Bildungsromanhabitus kreuzt.

Für Plor ein absolut verdienter Academy Awards Kandidat, für Johannes aus diversen Gründen problematisch. Und so sind wir vor allem damit beschäftigt, diesen Film zu zertrümmern bzw. zu verteidigen. Let’s get ready to rumble!

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Episode 167: Mermaids Don’t Cry – Magischer Realismus aus Österreich

Johannes hat auf den Hofer Filmtagen eine kleine Independentfilm-Perle gefunden und will sie unbedingt mit Plor und dem Publikum teilen: Mermaids don’t cry, der Debütfilm von Franziska Pflaum aus dem Jahr 2022.

Wir reden über das österreichische Kino, über die fantastische Hauptdarstellerin Stefanie Reinsperger über Feel Good Movies, soziale Konflikte und die richtige Mischung aus Alltag, Magie und Bizarrerie.  

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